„Das Leben ist wie eine grosse Autobahn,
lass uns nicht lange überlegen, sondern losfahrn.
Wohin ist egal und wo lang werdn wa sehn,
es wird immer weiter gehn [… ]“
In diesem Sinne: Herzliche Einladung mir via Internet und vielen Buchstaben mal wieder auf einer laaaaaaaaangen imaginären Autobahn nach Sarajevo zu folgen! Oh, Moment, nein. Stop. Da habe ich den Verlauf der Zeit vollkommen außer Acht gelassen. Verweilen wir in einer Stadt, die in Bosnien durch ihren Namen oft für allgemeine Verwirrtheil sorgt. Denn warum wird eine Stadt denn auch auf den Namen „Stein“ getauft? Viel mehr Sinn würden „Kreuz“ oder „schiefe Kirche“ machen. Nun, dass dies aber Bosnier wissen können, ist schlichtweg unmöglich: Um einen grenzübergreifenden Bekanntheitsgrad zu erlangen, müsste die beschriebene Stadt erheblich wachsen. So bleibt sie eine international unbekannte Siedlung vieler Menschen an einem schmalen Fluss, der schiefe Turm wird nie an die Popularität seines großen Bruders in Pisa herankommen und der Name Kamen (bosnisch für Stein) wird weiter für Verwirrung sorgen.
Mir egal, ich mag die Stadt trotzdem. In ihrem Herzen, nah an der Innenstadt, wartete in der Küche eines weißen Hauses auf einem Holztisch ein dampfender Teller. Königsberger Klopse nach Mamas Art! Ich sah es wieder; mein Leibgericht! Und nicht nur das. Ich sah meine Heimat wieder. Mama, Papa, Oma, Lukas… Doch bevor ich das alles genießen konnte, sah ich Schnee.
Schnee ist etwas Feines. Wer liebt ihn nicht? Stundenlanges Herumtoben, Schneeballschlachten, Schlittenfahren, das Bauen von menschenähnlichen Wesen mit Karottennase. Alles in allem ein tolles Naturereignis. Aber nicht, wenn es etwas zu verhindern droht, auf das man sich wochenlang gefreut hatte. So dachte ich Ende Dezember letzten Jahres. Mit jeder Schneeflocke, die vor unserem Fenster in Richtung Boden rieselte, begann ich den Schnee etappenweise immer schlimmer zu verfluchen. Bevor ich mich dem Schneeflockenbetrachten widmen konnte, hieß es die Wohnung wieder in ihren Lotte-und-Lena-freien Zustand zurückzuversetzen. Denn unser Abschied von den 70 Quadratmetern stand an. Seit September hatten wir in dieser voll ausgestatten Wohnung im Stadtteil Dobrinja gewohnt; und dass sie ausgestattet ist, das liegt hauptsächlich daran, dass wir dort sozusagen nur zur Untermiete gewohnt haben: Das Ehepaar, welchem die Wohnung gehört, hat eine zweite im Norden Bosniens. Diese wollten sie Anfang Dezember ganz gerne für eine absehbare Zeit von drei Monaten verlassen und mal wieder in Sarajevo wohnen. So war schon seit Anfang November klar gewesen: Wohnungssuche für die beiden deutschen Freiwilligen. Eine Fahrt über das Kamener Kreuz ohne einen Stau zu genießen? Schwer zu schaffen. Mindestens genauso schwer ist es, eine freie Wohnung in Sarajevo zu finden. So stand erst kurz vor dem großen Event „Umzug“ fest, dass Lucijas ( = unsere Verantwortliche) Wohnung unser neues Heim werden würde. Gleichzeitig würde sie dann ausziehen. So saß ich dann am 19. Dezember zum letzten Mal auf dem Küchenstuhl in Dobrinja und versuchte meine Tötungsblicke an riesigen Wolken, die ihre Schneeflocken über der Stadt verteilten. Genügend Zeit hatte ich. Nicht genügend, sondern zu viel. Angetrieben von der Aussicht, dass wir um 11 Uhr mit dem großen, blauen Bulli abgeholt werden würden, lagen alle Anziehsachen, Schuhe, Kosmetika, Fotos, Stifte, Handtücher und sonstige private Sachen in ihren Taschen und Tüten, die Wohnung strahlte und funkelte überpünktlich und Charlotte und Lena waren gestriegelt und fertig für das Abenteuer. Leider war der Bulli nicht überpünktlich. Es gab viele Probleme bei der Koordination der beiden Umzüge. So saß ich dort und versuchte den Wolken über meine Blicke mitzuteilen, dass sie sich doch bitte vorstellen sollten, was der kommende Tag für ein Tag für mich wäre. Den Bus würde ich nicht in Richtung Arbeit nehmen, sondern stadtauswärts, bis ich den Radarturm sehen würde. Der Bus würde nicht weiterfahren, den letzten Kilometer würde ich meine rote Reisetasche hinter mir ziehen, dann über den großen Parkplatz mit den Schranken, in der Drehtür des Gebäudes würde mir warme Luft entgegenschlagen. Die rote Tasche würde ich bald darauf abgeben und im Gegenzug ein Stück Papier bekommen. Die Wartezeit würde mir gar nicht lang vorkommen. Sie würde wie im Flug vergehen. Und der selbige würde noch schneller vergehen. Nach dem Aufsetze auf Beton würde mich kurz darauf, nachdem ich einem genervten Beamten meinen Ausweis durch einen schmalen Ritz in einer Scheibe zugeschoben hätte, mein Papa auf mich warten. Hinter der Absperrung würden wir uns in den Arm nehmen (ENDLICH), bald darauf sein Auto draußen vor dem riesigen Gebäude im Wirr-warr der vielen und hektischen Menschen suchen. Die Tasche wäre verstaut, wir angeschnallt und auf dem Weg zu der Stadt mit dem komischen Namen und dem schmalen Fluss. Ein dampfender Teller würde auf mich warten. Auch meine Mutter würde ich umarmen, ihr einen Kuss geben. In einem anderen Haus, circa 2 Kilometer Luftlinie entfernt, würde mein komplett überraschter Freund völlig die Fassung verlieren. Würde. Wäre. Würde.
Der Bulli holte uns am Abend gegen 19 Uhr ab. Es war richtig anstrengend, all die Sachen ein- und auszuladen. Die Schneeflocken, die ich tagsüber noch betrachtet hatte, lagen bereits auf dem Boden und taten ihr Übriges dazu. Angekommen im ersten Stock unseres neuen Wohnhauses (Bilder davon und andere kommen gaaaaaaaaaaaaaaanz unten) hieß es kurz umgucken, abstellen und wieder heraus. Wie jedes Jahr fuhr auch letztes Jahr Sebastian Moehrchen mit seiner Hilfsorganisation „building one world e.V.“ hier nach Sarajevo, um unter anderem auch im Kinderheim Egipat, Weihnachtspakete auszuteilen. Am Abend ihrer Ankunft fuhren wir dann also in die Stadt, und mit ihnen zu reden und um sie zu ihrem Hostel zu lotsen. Dem Chaos aus Taschen, Koffern und Tüten in unserer neuen Wohnung konnte ich mich so erst spät in der Nacht widmen. Aber das musste sein: schließlich wollte die rote Reisetasche zum zweiten Mal an diesem Tag gefüllt werden, um am nächsten Tag bereit für das nächste Abenteuer zu sein. Das war ich langsam auch und die erste Nacht im neuen Bett rief! Dauerte allerdings nicht so lang an, da sich letzteres als unglaublich weich herausstellte und meinem Rücken das nicht gefiel. Die Couch im Vor-Wohnzimmer dagegen schon und so schlief ich im Jahr 2011 in unserer neuen Wohnung nur auf der Couch.
Leider zeigte auch das Fenster meines neuen Zimmers das altbekannte und zu diesem Zeitpunkt gehasste Bild. Schneeflocken. Auch in Alipašino Polje (unserem neuen Stadtteil) sahen sie genauso aus, wie in Dobrinja. Und sie waren leider auch genauso hartnäckig. Das Bild vor unserer Tür sah immerhin echt schön aus! (Bilder). Den Morgen verbrachte ich als nervöses Nervenbündel im Jugendcenter. Mein Zustand besserte sich nicht gerade, als mir gesagt wurde, dass doch gar keine Flugzeuge fliegen würden?! Ein Scherz. Gegen Mittag bat Lucija an, mich zum Flughafen zu bringen. Das „Den Bus würde ich nicht in Richtung Arbeit nehmen, sondern stadtauswärts, bis ich den Radarturm sehen würde“ wurde so ein wenig verändert, denn der Schnee machte ein Laufen mit der großen roten Tasche unmöglich. Am Radarturm angekommen, die Drehtür passiert, platzte ich vor Aufregung. Die Tasche wurde ich los, und bevor ich im Gegenzug meine Bordkarte bekam, erfuhr ich, „Ja, wir fliegen!“. Allerdings eine Stunde später. So verging die Wartezeit nicht wie im Flug; aber fast. Später, eingequetscht in meinem Sitz, die dicke Jacke auf dem Schoß, das Getränk, was bei vielen ein Tomatensaft war, in der Hand, lernte ich eine Bosnierin kennen. Sie war neben mir eingequetscht, wollte kein Getränk, nur schlafen. Und bevor sie das tat, hatten wir ein echt gutes Gespräch. Ehrlich und offen, lustig und humorvoll. In diesen Minuten über den Wolken, wurde mir so bewusst, dass ich mich mit einer Frau unterhielt, dessen Heimat dort unter den Wolken lag. Das „du“ war ungeschriebenes Gesetz in diesem Gespräch; wie in so vielen solcher Art. Man brauchte nicht lange, um warm zu werden. Nach einigen Minuten erzählte sie mir über wichtige Ereignisse ihres Lebens. Wir plauderten über unsere Vorhaben in Deutschland. Sie gab ganz offen zu, dass sie gar nicht im Kopf hatte, an was für einem Wochentag Weihnachten sein würde. Alles herrlich ehrlich und offen, ganz locker und doch ernst. Bevor ich später dem doch nicht genervten Beamten meinen Ausweis durch einen schmalen Schlitz einer Scheibe zuschob, tauschten wir noch unsere Nummern. Dann musste sie los; ihre Schwester würde sie abholen; Gepäck hatte sie nicht. Deswegen konnte sie das lange, kurvige Band außer Acht lassen. Ich dagegen nicht und wartete dort, dass meine rote Tasche auf diesem mir entgegen kam. Papa und ich umarmten uns lang. Mensch, war das schön! Alles fühlte sich zwar komisch an; die ganzen Schilder auf Deutsch, alle Menschen konnte ich verstehen, alles sah so anders aus. Der Flughafen war so riesig, viel zu viel. Wie ein paar Nummern zu groß. Und alles sah so deutsch aus. Allein schon die Schilder der deutschen Bahn, die den Weg zum nächsten Zug wiesen. Es war irgendwie ein vertrautes und irgendwie schönes Gefühl, das alles zu sehen (es mag sich zwar komisch anhören, dass so ein Gefühl bei Schildern entstand), gleichzeitig aber auch komisch. Auf einmal war ich da; von jetzt auf gleich. Ich dachte, ich passe da nicht hin und hatte Angst, dass das Gefühl zu lang andauern konnte. Was vielleicht aber auch nicht schlecht wäre, denn wenn ich nach diesen zwei Wochen das Gefühl gehabt hätte, ich bin wieder voll und ganz da, angekommen in der Stadt mit dem kleinen schiefen Turm, dann wäre das nicht optimal. Überhaupt nicht optimal.
Als ich Papa dann dort stehen sah, wir uns dann umarmten und zum Auto gingen, war dieses Gefühl noch extremer, als das, welches mit den Schildern zu tun hatte (wäre aber auch höchst merkwürdig, wenn nicht). Die ganze Zeit über hatte ich das Gefühl, in einem Traum zu sein. Oder zumindest nicht richtig in meinem Körper zu sein. Oder fremdgesteuert zu werden. Dann kam deutsches Radio, 1live, deutscher Verkehr, die Anzeige, auf meinem Handy, dass es deutsches Netz empfing, deutsche Verkehrsschilder, eine Autobahn. Und eine Autobahn mit deutschem, abendlichem Berufsverkehr. Vor den Toren Kölns, wie am Kamener Kreuz: Deutscher Stau. Die Minuten zogen sich, die Schlange der Autos ebenfalls. „[…]wir angeschnallt und auf dem Weg zu der Stadt mit dem komischen Namen und dem schmalen Fluss. Ein dampfender Teller würde auf mich warten. Auch meine Mutter würde ich umarmen, ihr einen Kuss geben.“ Vom Prinzip definitiv richtig und mindestens genauso gut, wie in der Vorstellung. Jedoch um einige Stunden nach hinten verschoben. Wenn wir in den Ferien von einem Urlaub nach Hause gekommen sind und sich die schwere Holztür zu unseren vier Wänden sich öffnete, kam mir immer dieser Geruch entgegen. Der Geruch unseres Hauses, den man im Alltag nicht mehr wahrnimmt, nach einer Urlaubsreise halt aber sofort riecht und der einem irgendwie sofort gefällt. Nachdem ich Mama umarmt hatte und auf dem Weg zu meinem Teller mit dem besten Gericht überhaupt war, kam mir dieser Geruch entgegen und er kam mir seltsam fremd vor. Ich hatte ihn irgendwie vergessen. Genauso stark, wie er in Vergessenheit geraten war, liebte ich ihn aber wieder.